Socialtecture: Indra Musiol im Interview über ganzheitliche Stadtgestaltung

Socialtecture: Interview mit Indra Musiol über nachhaltige Stadtgestaltung Wie Architektur soziale Begegnungen stärkt und urbane Räume zu lebendigen Ökosystemen werden, erklärt Indra Musiol von JES Socialtecture im Interview. Im Fokus: neue Konzepte für Schulbau und…

27. März 2025
Stadtgestaltung

Städte als lebendige Systeme denken: Indra Musiol von JES Socialtecture erklärt, wie Architektur das soziale Miteinander stärkt und warum Schulräume eine zentrale Rolle bei der Entwicklung nachhaltiger Quartiere spielen.

Indra Musiol
JES Socialtecture

Stadt als lebendiger Organismus

SCHULBAU: Frau Musiol, mit Socialtecture schaffen Sie einen neuen Ansatz, der Architektur um die soziale Dimension erweitert. Was bedeutet es für Sie, Stadtgestaltung als lebendigen Organismus zu betrachten?

INDRA MUSIOL: Für uns beginnt alles mit der Perspektive, das Leben und Zusammenleben in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Denkweise zeigt sich in der Art und Weise, wie wir Orte und Räume denken, entwerfen und machen: Es geht bei den „Socialtecture Principles of Life“ z. B. um das Zusammenfügen, nicht das Trennen, um Balance statt Dominanz, um Flow statt Schema. Wir betrachten, wie das Leben funktioniert und entwickeln daraus Projekte, die das menschliche Miteinander stärken.

Ein zentraler Aspekt ist die „Phase -1“ – eine frühe Phase vor der eigentlichen Planung, in der wir uns intensiv mit der DNA eines Ortes auseinandersetzen. Bevor überhaupt ein Entwurf auf Papier gebracht wird, fragen wir uns: Was lebt hier schon? Was braucht der Ort und was die Menschen? Wie kann ein neuer Ort einen Beitrag für die Nachbarschaft leisten?

SCHULBAU: Schulen sind zentrale Orte für die Gemeinschaft. Wie sollten Schulen und das umliegende Quartier gestaltet sein, um das soziale Miteinander und die Bildung optimal zu fördern?

INDRA MUSIOL: Schule ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft, keine Insel. Sie sollte so gut wie möglich in ihren urbanen Kontext eingebettet sein. Wir sehen die Schule als Teil eines dynamischen Netzwerks, das über das Klassenzimmer hinaus wirkt. Es geht darum, Begegnungsräume zu schaffen, Orte für Austausch, die sowohl für Schüler*innen als auch für die Gemeinschaft von Bedeutung sind.

In einem unserer Projekte erarbeiten wir eine zentrale Studienstufe, an der Schüler*innen von verschiedenen Waldorfschulen zusammenkommen können. Diese gemeinsame Oberstufe ermöglicht einen regen Austausch unter den Jugendlichen und auch eine Möglichkeit, das „Whole“ – ein zentrales Prinzip von Socialtecture – im Schulumfeld umzusetzen.

SCHULBAU: Was bedeutet das Prinzip „Flow“ in Ihrer Arbeit?

INDRA MUSIOL: Flow ist das Gegenteil von Schema. Es gibt vieles, was fließt: Zeit, Wasser oder Wissen. In der Praxis kann dieses Prinzip z. B. bedeuten, dass Schulen die unterschiedlichen Rhythmen der Schülerinnen berücksichtigen: Während Grundschülerinnen morgens früher bereit sind zu lernen, benötigen Jugendliche vielleicht eher einen späteren Start.

Zudem bedeutet Flow, immer wieder vorhandene Schemata zu hinterfragen. Brauchen wir sie noch? Passen sie noch? Dazu gehört auch, Gelerntes zu hinterfragen: Schulstunden müssen nicht immer exakt 45 Minuten dauern und von einer Pausenklingel unterbrochen werden. Und Wissen fließt nicht nur von der Lehrkraft zu den Schüler*innen.

Urbane Räume als vernetzte Systeme

SCHULBAU: Der städtische Raum als lebendiges System – wie arbeiten Sie damit?

INDRA MUSIOL: Anstatt einzelne Gebäude wie Objekte zu verstehen, betrachten wir Orte, Städte, Stadtteile, Nachbarschaften als Ökosysteme, in dem jedes Element eine Aufgabe hat. Eine Innenstadt ist mehr als eine Ansammlung von Gebäuden. Sie ist ein Netzwerk von Funktionen und Beziehungen. Jedes Element – sei es der Blumenladen, der Friseur oder das Kaufhaus – spielt eine Rolle im öffentlichen Leben und ist Teil eines größeren Ganzen. Dieses Denken in Ökosystemen führt immer wieder zu neuen Blickwinkeln und guten Ideen.

So stellte eine Architektin kürzlich bei einem Projekt fest, dass es sinnvoll sein könnte, Hotels, Krankenhäuser und Blumenläden von vornherein zusammenzudenken, weil sie viele Schnittstellen für eine gemeinsame Wertschöpfung haben.

Partizipation als Gestaltungsprinzip

SCHULBAU: Wie integrieren Sie Partizipation und gemeinschaftliche Prozesse in Ihren Projekten?

INDRA MUSIOL: Statt lediglich Bedürfnisse abzufragen, verfolgen wir den Ansatz der Co-Kreation: Das bedeutet, dass gemeinsam mit Bürgerinnen, Expertinnen und Planerinnen in Workshops und Ideenmeisterschaften echte Lösungen erarbeitet werden. So geschehen beispielsweise in Münster, wo Schülerinnen Ideen für eine zukunftsfähige Mobilität in der Stadt entwickelten.

Durch ihre Beiträge, wie das Thema der Sicherheit an Bushaltestellen, flossen ganz neue, wertvolle Aspekte in die Arbeit der Verkehrsplanenden ein, die mit der Stadt den Masterplan Mobilität entwickelt haben. Für uns sind es solche Prozesse, die das menschliche Zusammenleben stärken und den urbanen Raum für alle Generationen lebenswert machen.

SCHULBAU: Was sind die Prinzipien von Socialtecture, und wie arbeiten Sie mit Ihnen?

INDRA MUSIOL: Die neun Prinzipien von Socialtecture („Principles of Life“) sind ein Kompass für unsere Arbeit: Es geht darum, lebensdienlich zu denken und zu handeln, nicht um „höher, schneller, weiter“. Die Frage lautet: „What would life do?“ Dieser Kompass hilft dabei, Orientierung zu schaffen – in einer Welt, die immer komplexer wird, in der immer mehr Regulierungen und Anforderungen das Bauen bestimmen.

Wir wollen mit Socialtecture Orte und Räume schaffen, die im besten Sinne lebenswert sind: für ein gutes Miteinander, nachhaltig und gesund.

SCHULBAU: Welche Visionen verfolgen Sie mit Socialtecture?

INDRA MUSIOL: Unsere Vision ist es, eine Baukultur zu gestalten, die auf Vielfalt und Resilienz setzt. Natur erzeugt Polykultur, wir aber sehen in der gebauten Umwelt sehr viel Monokultur. Ein diverser, lebendiger Ort entsteht, wenn jedes Element, jede Funktion, jeder Raum seine eigene Bedeutung hat und alle gemeinsam ein widerstandsfähiges System bilden. Socialtecture ist damit mehr als ein architektonischer Ansatz – es ist ein Katalysator für die Entwicklung unserer Stadträume als Lebensräume.

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